Achtsam Wissen aufnehmen – Neuroplastizität nutzen

Mit Achtsamkeit das Lernen lernen
Redaktion | 24.05.2022 | Lesedauer 5 min

«Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Hört man damit auf, treibt man zurück.» Loazi

Stellen Sie sich vor, sie hätten ein Superhirn, dass sich innerhalb kürzester Zeit an neue Herausforderungen anpassen, frische neuronale Verbindungen knüpfen und von Ihnen selbst ganz bewusst gepflegt und organisiert werden kann. Herzlichen Glückwunsch! Tatsächlich sind Sie wirklich im Besitz eines solchen Wunderwerks. Wurde früher geglaubt, dass wir vor allem im Kindesalter lernen und unser Gehirn im Erwachsenenalter fast unveränderbar ist, ist mittlerweile erwiesen: Auch erwachsene Gehirne sind noch veränderbar und können – ähnlich wie Muskeln – ganz bewusst trainiert werden. Das ist einerseits sehr positiv, wenn wir schlechte Gewohnheiten loswerden, für eine Klausur lernen oder eine neue Sprache erlernen möchten. Andererseits bedeutet es aber auch: Auch negative Einflüsse wie ausschweifender Social-Media-Konsum und angsteinflössende Nachrichten prägen unser Gehirn. Hier gilt: Ohne Lernen und gute geistige Nahrung können keine neue Verbindungen geknüpft werden.

Zum Abschluss unserer Artikelfolge zum Thema Achtsamkeit möchten wir Sie daher ermuntern, diese Dynamik Ihres Gehirns achtsam wahrzunehmen, die damit einhergehenden Chancen und Risiken zu erkennen und Neuroplastizität für Ihren persönlichen Studienerfolg zu nutzen.

 


Was ist Neuroplastizität?

Was genau versteht man nun genau unter Neuroplastizität und wie genau laufen die Anpassungsprozesse im Gehirn ab?

Hinweis

Unter Neuroplastizität (auch neuronale Plastizität oder Hirnplastizität) versteht man die erfahrungsbedingte (Erfahrung) Veränderung des Gehirns, die aktivitätsabhängige Adaptationsprozesse auf allen Ebenen des Nervensystems einschliesslich synaptischer und intrazellulärer Prozesse, der Neurogenese (z. B. im Hippocampus), der Modifikation von Neuronennetzwerken (z. B. Hebb’sches Prinzip) und kortikalen Regionen (vgl. kortikale Plastizität) kennzeichnet. Auslösebedingungen für Neuroplastizität sind neurobehaviorale Anforderungen im Kontext von Organismus-Umwelt-Interaktionen, jedoch auch Veränderungen nach zerebralen oder peripheren Schädigungen des Nervensystems (Hirnschädigung).[1]

Das menschliche Gehirn ist also nicht einfach statisch, sondern befindet sich stets in einer dynamischen Entwicklung und passt sich an laufende Prozesse an. Lern- und Umwelterfahrungen sorgen dafür, dass sich neue neuronale Netze bilden. Das hängt damit zusammen, dass unsere Gehirnneuronen bei neuen Handlungen in einem bestimmten Muster Impulse abgeben. Wenn wir z. B. einen bestimmten Ton auf dem Klavier spielen oder eine Vokabel lernen, feuern unsere Neuronen entlang eines bestimmten Pfades. Je öfter wir diesen Pfad benutzen, desto einfacher wird die entsprechende Handlung – ganz so wie ein Trampelpfad, der immer breiter wird, je öfter man ihn begeht. Hierbei hilft eine Substanz mit dem Namen Myelin, eine Zellmembran, die sich umso stärker bildet, je öfter wir bestimmte Schaltkreise im Gehirn benutzen. Das Myelin sorgt dafür, dass Reize besonders schnell weitergeleitet werden und baut damit quasi eine Art «Autobahn» im Gehirn.[2]

Durch Lernen und Üben können wir also unser Gehirn aktiv verändern und eine Art Fitnesstraining betreiben!

 


Das Gehirn achtsam füttern

Gerade in unserer von schnellen Ablenkungen und Social Media geprägten Welt lassen wir unser Gehirn aber viel zu oft einfach vor sich hindümpeln. Dies passiert auch, wenn wir z. B. nur halbherzig motiviert lernen, die Inhalte, die uns Schwierigkeiten bereiten, meiden, oder unter Zeitdruck möglichst viele Informationen in unser Kurzzeitgedächtnis speichern. Nachhaltige Schaltkreise können so nicht entstehen.

Wenn Sie achtsam lernen möchten, sollten Sie den Lern- und Überprozess einmal ganz bewusst wahrnehmen und sich vor Augen führen, was in Ihrem Gehirn eigentlich gerade passiert bzw. passieren sollte. Auch, wenn es vielleicht erst einmal unangenehm erscheint: Die alte Weisheit «Nur Übung macht den Meister/die Meisterin» hat ihre Berechtigung. Wenn wir achtsam lernen wollen, müssen wir gerade die Inhalte, bei denen es in unserem Gehirn noch «hakt», immer wieder wiederholen, um leistungsfähige Verknüpfungen aufzubauen. Das kann bedeuten, einen bestimmten Takt auf einem Instrument immer wieder zu wiederholen, eine Matheformel mit verschiedensten Werten durchzurechnen oder Lerninhalte auf Karteikarten zu notieren und immer wieder durchzuarbeiten.

Wenn Sie einmal das Gefühl haben, beim Lernen nicht weiterzukommen, liegt das in der Regel nicht an fehlendem Talent, sondern einer falschen Lerntechnik. Fragen Sie in diesem Fall bewusst, wie Sie Ihr Gehirn sinnvoll mit den relevanten Informationen füttern können und wie sie genügend Wiederholungen beim Lernen erreichen. Im Idealfall gelingt dies auf eine spielerische Art und Weise. So arbeiten z. B. verschiedene Apps zum Erlernen von Sprachen.

Auch falsche oder unerwünschte Verknüpfungen lassen sich mithilfe eines bewussten Trainings durch richtige Netzwerke ersetzen.

Ein Beispiel: Sie lernen gerade ein neues Stück auf einem Instrument, sind sich bei einem Abschnitt aber noch unsicher. Ihre bisherige Lösung ist: Sie spielen einfach weiter und hoffen, dass ihre Fehler nicht auffallen. Dadurch haben Sie sich eine völlig falsche Rhythmik angewöhnt und zwei falsche Töne sind auch noch dabei! In diesem Fall hilft es nur, den Teil des Stückes von Grund auf neu zu lernen. Sie müssen sich bewusstmachen, dass ihr bisheriges Spiel nichts mit dem zu tun hat, was in den Noten notiert ist, und stattdessen immer wieder die richtige Version wiederholen. Irgendwann entsteht auch hierfür die «Schnellstrasse» im Gehirn.

 


Ein Bodyguard für das eigene Gehirn

Unsere Neuronen unterscheiden nicht von sich aus zwischen sinnvollen und unsinnigen bzw. guten und schlechten Verknüpfungen. Auch schlechte Gewohnheit oder Denkfehlern, die wir immer wieder machen, fallen uns leicht, weil wir sie durch Wiederholungen gefestigt haben. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum Menschen sich z. B. von Verschwörungstheorien beeinflussen lassen oder in bestimmten Situationen immer wieder irrational reagieren. Die gute Nachricht ist aber: Durch einen achtsamen Umgang mit den Inhalten, die wir konsumieren, können wir unser Gehirn vor falschen oder gar schädlichen Informationen schützen.

Auch hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. Konsumieren Sie z. B. immer wieder sehr intensiv Texte und Erklärungen von Menschen, die einem bestimmten politischen Spektrum zuordenbar sind, kann es sein, dass Sie diese Erklärungen stark verinnerlichen und in Ihrem eigenen Gehirn als Lösungen hinterlegen. Gleiches gilt z. B. für fragwürdige Schönheitsideale oder den stetigen Konsum schlechter Nachrichten, der zu Lernerfahrungen wie «Die Welt ist schlecht!» oder «Alles ist gefährlich» führen kann. Auch Handlungsmuster können in diesen Rahmen fallen, etwa, wenn Sie es Ihren Kommiliton:innen gleichtun und in langweiligen Vorlesungen reflexartig zum Smartphone greifen, statt weiter zuzuhören.

 


Achtsamkeit bei der Informations- und Wissensaufnahme

Durch Achtsamkeit können Sie Distanz zu diesen Situationen gewinnen und zu einer Art «Bodyguard» für Ihr eigenes Gehirn werden. Ausserdem können Sie Ihr Gehirn durch bewusstes Lernen sinnvoll «neu programmieren» bzw. dafür sorgen, dass die richtigen Verknüpfungen hergestellt werden.

Folgenden Fragen können dabei als Anregung dienen:

  • Was möchte ich Lernen und wie kann ich am besten dafür sorgen, dass mein Gehirn hier Verknüpfungen herstellt?
  • Habe ich Erfahrungen dazu, wie ich am besten lerne? (z. B. wiederholtes Lesen, Karteikarten, Lernen mithilfe von «Eselsbrücken» o. Ä.)
  • Mache ich regelmässig Fehler, die ich zu ignorieren versuche, anstatt sie aktiv anzugehen?
  • Was konsumiere ich für Informationen? Möchte ich diese wirklich konsumieren?
  • Setze ich mich unbewusst Einflüssen aus, ohne mir bewusst zu machen, dass diese einen Einfluss auf mein Gehirn und mein Denken haben?

 


Weiterführende Literatur

  • Coyle, D. (2019): Erfolg braucht kein Talent. München: Riva Verlag.
  • Dingman, M. (2020): Das Gehirn. Neueste Erkenntnisse der Neurowissenschaften über unser wichtigstes Organ und seine Macke. München: Riva Verlag.
  • Kühn, S.; Lindenberger, U. (2016): Research on human plasticity in adulthood. A lifespan agenda. In: Handbook of the psychology of aging, 8. Aufl., 105–123. Amsterdam: Academic Press.

 

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